Leibniz und Wolff: Philosophieren im Geist der metaphysischen Tradition

Leibniz und Wolff: Philosophieren im Geist der metaphysischen Tradition
Leibniz und Wolff: Philosophieren im Geist der metaphysischen Tradition
 
Als der aus Breslau stammende Philosoph Christian Wolff die Moral ohne die Lehre der Offenbarung konstruieren wollte und allen Menschen, selbst den Chinesen, die Möglichkeit sittlichen Handelns zuschrieb, sorgten seine pietistischen Kollegen und Gegner dafür, dass der preußische König ihn schleunigst außer Landes verwies. Dessen Sohn, Friedrich II., rief ihn mit allen Ehren zurück. Indessen hatte Wolff die Denkanstöße von Leibniz auf dem Fundament einer noch sehr aristotelisch bestimmten Schulphilosophie in umfangreichen, sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache verfassten Werken ausgearbeitet, weshalb Kant ihn rühmte, den Geist der Gründlichkeit in Deutschland eingeführt zu haben.
 
Obwohl viele von Leibniz' Schriften gar nicht veröffentlicht waren und andere sich weit in Einzelwissenschaften verzweigten, nahm Wolff auf Leibniz Bezug, was ihm gegenüber den englischen und französischen Aufklärungsphilosophien einen beträchtlichen Vorteil einbrachte: Er vermochte das erkennende Individuum als aktiv zu denken und nicht wie Locke lediglich als Objekt von Sinneseindrücken, die die umgebenden Dinge wie auf einem Spiegel hervorbringen. Locke hatte gehofft, mit seiner Konstruktion die Erkenntnis von der Annahme transzendenter, aus Gott hervorgehender Ideen, die Descartes vertreten hatte, unabhängig zu machen. Aber mit einer bloßen Spiegelung der äußeren Dinge konnte die Tätigkeit des erkennenden Geistes nicht begriffen werden. Der Geist, die Monade ist produktiv und damit eher ein lebendiger Spiegel des Universums. Die geistige Substanz ist tätige Kraft. Sie bildet mit den einzelnen Vermögen der Seele Vorstellungen und Erkenntnisse, statt nur Bilder zu empfangen, und bringt diese durch ihre Fähigkeit, Einheit in der Vielheit zu erfassen, in Übereinstimmung. Leibnizfasste in einer Kette von philosophischen Schlüssen sein Denken fruchtbar zusammen, sodass eine Steigerung entstand: »Nun die Einigkeit in der Vielheit ist nichts anders als die Übereinstimmung, und weil eines zu diesem näher stimmet als zu jenem, so fliesset daraus die Ordnung, von welcher alle Schönheit herkommt und die Schönheit erwecket Liebe.« Darauf ließe sich ein Systemprogramm des idealismus ebenso errichten wie eine moderne Anthropologie..
 
Wolff erblickte seine Aufgabe darin, diesen Wesensbegriff nach den verschiedenen Disziplinen und Vermögen der Seele systematisch zu entfalten. Psychologie und Erkenntnislehre werden dabei vorzüglich ausgearbeitet. Beim Aufbau seines Systems versuchte er stets, dem Empirischen neben dem Rationalen seine Stelle anzuweisen. Wolff nannte das Empirische »historisch« und ordnete die Naturgeschichte, die er noch nicht als genetische Entwicklung, sondern als empirische Sammlung von Fakten verstand, neben die mathematisch und physikalisch beweisende Naturphilosophie. Durch einen solchen Zugang aber öffnete sich kein Weg zur geschichtlichen Erkenntnis des Menschen oder zur Entstehung des Kosmos oder des Lebens, obwohl Leibniz als Historiker die politische Geschichte selbst wiederum mit einer Skizze der Erdgeschichte eingeleit hatte.
 
Leibniz' Streben nach Harmonisierung von Glauben und Wissen wirkte so stark auf seine Schüler in Deutschland, dass hier die aufklärerischen Auseinandersetzungen mit der Theologie erst sehr verzögert einsetzten. Insofern es nicht um eine selbstständige Fundierung der Moral ging, war Wolff zu einer Versöhnung von Vernunft und Offenbarung bereit. Er grenzte mit großer Sorgfalt die Rechte beider gegeneinander ab und hoffte, der religiösen Wahrheit damit zu dienen, dass er die Probleme des Glaubens, die die Gemüter erhitzten, mit den Mitteln der Vernunft löste. Ebenso war Leibniz in seiner »Theodizee« (1710) verfahren, deren Untertitel die konfliktträchtigen Themen benannte: »die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und der Ursprung des Übels«. Indem sich die Wolffsche Schule jedoch von Leibniz' umfassender Bestimmung des Verhältnisses von menschlicher Freiheit zu göttlicher Güte entfernte, fand sie sogar Platz für die rationale Verteidigung der lutherischen Orthodoxie, die am buchstäblichen Offenbarungsglauben ziemlich starr festhielt.
 
Die umfangreichen systematischen Schriften Wolffs waren für den philosophischen Unterricht an den Universitäten, der in den ersten Semestern für alle Studenten Pflicht war, zu ausführlich und auch zu schwer verständlich. Den Gehalt dieses Denkens in knappe Formeln gebracht zu haben, war das Verdienst Alexander G. Baumgartens. Er brachte die endlosen Erörterungen Wolffs in ein handliches Buch von 1000 knappen Paragraphen, die noch Kantseinen Vorlesungen zur Metaphysik zugrunde legte. Obwohl Baumgartendie von Wolff entwickelte logische Technik der Analyse erstaunlich gut beherrschte, blieben seine Definitionen in ihrer Kürze allerdings oft dunkel und waren meist alles andere als eine Anleitung zu fruchtbarem Denken.
 
Dazu kam es eher dort, wo scharfsinnige Beobachter der zeitgenössischen englischen und französischen Philosophie wie etwa Johannes Nikolaus Tetens die Grenzen solcher Technik erkannten. Die Franzosen und Engländer erfassten vorrangig die sinnliche Erkenntnis, den passiven, reproduktiven Teil geistiger Tätigkeit. Wie ein Gedanke entsteht und gebildet wird, wie es zu vernünftiger Erkenntnis kommt, das vernachlässigten sie. So führte Tetens die Unterscheidung zwischen (passiver, vom Objekt ausgelöster) Empfindung und subjektiv gebildetem Gefühl ein. Durch das Gefühl entstehen dann Kräfte, die in der philosophischen Ästhetik als besondere, nicht lediglich rationale, sondern alle Kräfte und Erfahrungen des Menschen umfassende Erkenntnis des Schönen aufgefasst werden.
 
Die Schulphilosophie, worunter bis Wolff die Metaphysik verstanden worden war, wurde nach Kants kritischer Prüfung zunächst als überholt betrachtet und vergessen. Später wurde sie aus historischem Interesse erneut zum Gegenstand des Studiums. Schien zunächst Kants Philosophie seine Vorgänger überwunden zu haben, so zeigte sich schließlich, in welch hohem Maße er doch von ihr abhing. Kant, den seine Zeitgenossen für den »Alleszermalmer« hielten, weil er Sätze der alten Metaphysik als unbeweisbar darstellte und (etwa solche über die Existenz Gottes) dem Glauben zuwies, teilte viele der Voraussetzungen und auch Vorurteile seiner Vorgänger. Sein kritisches Programm reichte aber weder aus, noch ersetzte es die philosophische Arbeit, die andere neben und nach ihm geleistet haben.
 
Prof. Dr. Horst Günther
 
 
Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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